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Khawam inspiziert seinen Wunscharbeitsplatz. Foto: Marco Heinen
Lübeck. Der Iraker Khawam A. (19) denkt noch oft an den Tag, als Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) in seine kleine Stadt kamen, nach Sindschar nahe Mossul. Am 3. August 2014 war das. Wer wie Khawam Jeside ist, ergriff sofort die Flucht, sah zu, dass er aus der Stadt hinaus kam. Jesiden gehören zu den Menschen, denen gegenüber die Mörder des IS keinerlei Gnade walten lassen. Acht Tage versteckte sich Khawam in den Bergen. Den meisten seiner Verwandten gelang ebenfalls die Flucht: den Eltern, drei Schwestern, einem Bruder, zwei Onkels, drei Tanten und auch der Oma. Zwei entfernt verwandten Familien gelang das nicht. Sie wurden samt ihrer Kinder vom IS verschleppt. Bis heute wisse niemand, was aus ihnen geworden sei, sagt Khawam.
Der höfliche junge Mann berichtet von seiner Flucht so, wie andere von einem verpassten Flug in Italien oder einem verregneten Sommerurlaub auf Mallorca erzählen. Khawam traf seine eigene Familie Wochen später in einem Flüchtlingslager im kurdischen Nordirak wieder, wo sie alle gemeinsam in einem Zelt lebten. Den Entschluss, nach Deutschland aufzubrechen, hatte Khawam da längst gefasst. Deutschland genießt einen guten Ruf vor allem auch bei den Jesiden. Vor Jahrzehnten schon hatten viele von ihnen dort eine neue Heimat gefunden. Eine Ausbildung machen und dann in Deutschland arbeiten, das hatte sich der junge Mann vorgenommen, in dessen Heimat seit Jahren Krieg herrscht. Seine Familie zeigte sich nicht begeistert, als er von seinen Plänen erzählte. Doch schließlich half sein Vater ihm, das Geld für die Flucht zu erarbeiten. 8.000 Dollar, das ist der Kurs für ein Ticket in eine ungewisse Zukunft.
Am 26. Juli vergangenen Jahres dann brach Khawam mit zwei anderen jungen Männern, die er im Lager kennengelernt hatte, auf. 15 Stunden Fußmarsch, viele Kilometer auf Lkw und in Autos auf der Balkanroute. Der genaue Weg? „Ich weiß nicht. Ich kenne nicht alle Länder“, sagt Khawam, der inzwischen sehr gut Deutsch spricht – zusätzlich zu seiner kurdischen Muttersprache (Kurmandschi), Farsi und Englisch. Acht Tage Flucht, kaum Pausen. Essen und Trinken gab es nur so viel, wie er als Proviant mitgenommen hatte. Den Schleppern ist es egal, wie es den Flüchtlingen geht. Am neunten Tag endlich erreichte Khawam Passau. Deutschland also, nicht Österreich. Erleichterung. Über München gelangte er schließlich in eine Erstaufnahmeeinrichtung in Lübeck. Schon kurz nach seiner Ankunft fängt er an Deutsch zu lernen und hilft im DRK-Kindergarten der Unterkunft am Volksfestplatz aus. Stolz zeigt er ein Zeugnis, das ihm das DRK ausgestellt hat und in dem sein guter Umgang mit Kindern und seine große Hilfsbereitschaft herausgestellt werden. Er trägt es immer bei sich, denn er weiß, dass es mal wichtig werden könnte. Inzwischen sind viele Monate vergangen und Khawam wohnt in einem Containerdorf außerhalb Lübecks. Seit Mitte März darf er endlich an einem Integrationskurs teilnehmen. Fünf Stunden täglich lernt er Deutsch, erfährt, wie man hierzulande kocht, lernt das Rechtssystem kennen und vieles mehr. „Wir können nicht uns helfen, wenn wir nicht Deutsch sprechen. Erst dann kann ich was für mich und meine Familie tun“, sagt Khawam in fast fehlerfreier
Grammatik. Zwei- bis dreimal pro Woche telefoniert er mit seiner Familie, die noch immer im Zelt lebt.
Wenn er gebraucht wird, hilft er nach der Schule im Kindergarten aus. Es gibt eine Liste, in der er sich für Dienste eintragen kann. Neuerdings ist er so oft er kann bei den Maltesern und macht dort ein Praktikum. Wenn es nach ihm
ginge, dann würde er gerne sobald wie möglich eine Ausbildung zum Notfallsanitäter beginnen. „Weil ich den Menschen helfen möchte“, sagt Khawam. Ein bisschen lieber noch möchte er bei der Polizei anfangen. Aber irgend
jemand hat ihm gesagt, dass das nicht ginge. Mal sehen. Khawam ist so voller Energie und Enthusiasmus. Hoffentlich bleibt das so.
Text: Marco Heinen